Exklusiv-Interview

mySugr nach dem Deal: „Wir wollen jetzt die größte Diabetes-Brand der Welt werden“

mySugr-founder: Gerald Stangl, Fredrik Debong, Frank Westermann and Michael Forisch © Trending Topics
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Am 30. Juni 2017 begann für das Wiener Diabetes-Startuo mySugr eine neue Zeitrechnung. Der Schweizer Pharmariese F.Hoffmann-La Roche AG (50 Mrd. Euro Umsatz in 2016) sicherte sich über die Tochterfirma Roche Diagnostics 100 Prozent an dem Unternehmen. Kolportiert wurden rund 80 Millionen Euro für das 40-köpfige Team um Frank Westermann, Gerald Stangl, Michael Forisch und Fredrik Debong überwiesen.

Eine Woche später kündigten die Gründer an, eine Million an die Mitarbeiter als Loyalitäts-Bonus auszuschütten (Trending Topics berichtete exklusiv). Wir haben das Gründer-Team vergangene Woche zu einem Interview über Unternehmensidentität, neue Märkte, Konkurrenten und Datenschutz getroffen. Hier gibt es das ganze Gespräch im Video zu sehen:

TT: Was bleibt aus den Monaten vor dem Exit persönlich bei euch hängen?

Gerald Stangl: „Ich habe immer eine Situation im Kopf: Bevor wir intern den Loyalitätsbonus kommuniziert haben, gaben wir den Mitarbeitern zwei Stunden Zeit, uns mit ihren Fragen zum Exit zu löchern. Als die ersten dann im Anschluss schon am Gehen waren und die Stimmung von der Verunsicherung ins Positive gekippt war, sagte Frank: „Eines haben wir noch vergessen zu sagen…“. Die Leute konnten nicht glauben, dass sie alle persönlich von dem Deal profitieren. Wir vier hatten wohl alle feuchte Augen, als wir die glücklichen Menschen in unserem Büro gesehen haben.“

Michael Forisch: „Ich persönlich habe endlich wieder mehr Zeit und komme wieder zum Schlafen. Ein Großteil des Managements war ein halbes Jahr mit der Due Diligence eingespannt.“

TT: mySugr pflegt eine besondere Unternehmenskultur, die auf Transparenz, flachen Hierarchien und Optimismus fußt. Hat sich die Identität durch den Exit geändert?

Gerald Stangl: „Es ist noch nicht lang genug her, um jetzt konkrete Auswirkungen zu spüren. Aber einer der entscheidenen Gründe, weshalb uns Roche gekauft hat, war unsere Unternehmenskultur. Roche löchert uns zur Zeit mit Fragen, wie wir unseren Alltag in der Firma gestalten und wie wir unsere Mitarbeiter führen. Es gibt den Wunsch von uns zu lernen. Gestern haben wir den Geschäftsführer von Roche Diagnostics bei uns gehabt und unsere Leute haben gemerkt, wie groß das Interesse an uns ist.“

Michael Forisch: „Es ist eher so, dass Roche uns nicht uns die eigene Kultur aufdrängen möchte, sondern dass wir im Umkehrschluss unsere Art und Weise zu arbeiten in den Konzern hineintragen.“

TT: Wie läuft die Zusammenarbeit mit so einem gewaltigen Konzern im Tagesgeschäft ab?

Frank Westermann: „Es wird immer intensiver. Roche ist ein riesengroßes Unternehmen mit vielen Prozessen und vielen Niederlassungen in vielen Ländern. Für uns ist das eine steile Lernkurve, auch über die Möglichkeiten, die sich uns in Zukunft bieten. Wir sind immer noch in der Honeymoon-Phase, die dauert allerdings schon zwei Monate lang und wir hoffen, dass sie noch ein wenig andauert. Bei mySugr trifft man zur Zeit nur glückliche Gesichter und so soll es bleiben.“

TT: Welche neuen Märkte erschließen sich euch durch die Zusammenarbeit mit Roche?

Frank Westermann: „Das Mindset ist ein ganz anderes. Roche agiert mit dem Selbstbewußtsein eines globalen Unternehmens. Wir haben uns vor dem Exit auf unsere Kernmärkte Europa und USA fokussiert und hatten damit genug zu tun. Jetzt öffnet sich uns plötzlich die Perspektive, mySugr in interessante Märkte wie China, Russland oder Australien zu bringen. Unterschiedliche Kulturen, Problemstellungen, die wir so noch nicht kannten – das werden unsere neuen Herausforderungen.“

Gerald Stangl: „Wenn wir von Visionen und großen Denken sprechen: Es geht uns um die Wahrnehmung, die man jetzt von uns in der Branche hat. Wir wollen jetzt die größte Diabetes-Brand der Welt werden, und das ist jetzt keine Träumerei mehr. Jeder im Unternehmen glaubt an dieses Ziel, und auch bei Roche traut man uns diese Ziele zu.“

TT: mySugr hat angekündigt, in Wien auf 200 Mitarbeiter anzuwachsen zu wollen. Gibt es genug Talente und Fachkräfte in Wien? 

Michael Forisch: „Wir haben noch einen gewaltigen Hiring-Plan für dieses Jahr. Einige Stellen sind auf unserer Homepage schon ausgeschrieben. Wir werden sicher noch zwischen 10 und 20 Leute in den nächsten Monaten dazu bekommen. Aber es wird immer schwieriger in Wien die internationalen Fachleute zu finden, die wir brauchen. Wir haben letztes Jahr schon einigen Menschen geholfen, nach Wien zu übersiedeln, weil wir die Talente, die wir brauchen, hier in Wien nicht finden.“

TT: Wie gehen Versicherungen, Kunden und Produzenten jetzt nach dem Deal auf euch zu?

Fredrik Debong: „Ich bin auf vielen Konferenzen und dort baut man sehr starke persönliche Beziehungen auf. Und ich habe den Eindruck, dass diejenigen, die ohnehin schon unsere Freunde waren, auch unsere Freunde bleiben. Und die, die uns zuvor noch nicht kannten, haben in den letzten Wochen von uns gelesen. Ich war vor einiger Zeit bei einer der größten Diabetes-Konferenzen der Welt in Minneapolis. Da habe ich ein paar Unternehmer getroffen, die wegen des Roche-Deals auf mich zukamen und mit mir verhandeln wollten. Im Anschluss an die Konferenz durfte ich Roche-Fabrik in Minneapolis besuchen. Diese Produktionsstätte ist einfach enorm. Der Respekt in der Branche vor dieser Firma ist riesig.“

TT: Welche Unternehmensteile werden miteinander verschmelzen?

Gerald Stangl: „Wir bleiben operativ eigenständig. Durch die neue Positionierung wollen wir gemeinsam mit Roche ein offenes Ökosystem aufbauen.“

Frank Westermann: „Wir werden bei Prozessen wie etwa Rechtsangelegenheiten, die man nicht doppelt haben muss, sicherlich zusammen agieren. Es ist aber sehr wichtig, dass wir ein unabhängiges Unternehmen bleiben. Wir geben keine Daten an das Roche-Backend weiter. Eine Integration soll da stattfinden, wo es Synergien gibt und Kosten gespart werden können. Aber wir setzen keine Schritte in Richtung der Patienten oder in die Richtung, als dass unsere Plattform nicht mehr als offen und unabhängig wahrgenommen werden kann.“

Gerald Stangl: „Im letzten Meeting mit Roche haben wir auch geklärt, wie die Kommunikation ablaufen wird und auch dort wird sich nichts ändern. Lediglich auf Eigentümerebene werden wir gemeinsam nach außen kommunizieren. Aber das kommt sehr selten vor.“

TT: Ihr seid jetzt in direkter Konkurrenz zu Sanofi und Google, die mit Unduo den gleichen Markt bearbeiten wie ihr. Seht ihr Euch solchen Vergleichen gewachsen?

Gerald Stangl: „Die kochen alle auch nur mit Wasser. Als wir gegründet haben, gab es viele große Namen, die im Silicon Valley mit sehr viel Geld ein ähnliches Modell wie wir verfolgt haben. Die gibt es heute alle nicht mehr. Wir waren damals die kleinen Fische aus Wien und wir gehen diese Herausforderung mit der selben Entspanntheit an wie wir es damals getan haben.“

TT: Könnt ihr euch vorstellen, wie die Gründer von Runtastic und Shpock auch, in andere Startups zu investieren?

Frank Westermann: Der persönliche Fokus bleibt zu hundert Prozent auf mySugr, aber wir wollen einen Teil des Geldes, das wir bekommen haben, dem Ökosystem zurückzugeben. Wir haben auf unserem Weg die eine odere andere spannende Erfahrung gemacht, die wir an Gründer weitergeben können, die noch auf dem Weg sind. Fehler, die wir gemacht haben, muss niemand ein zweites Mal machen. Wir können sicher den einen oder anderen Tipp geben.“

Gerald Stangl: „Es liegt uns allem sehr am Herzen, dass in Wien mehr Unternehmertum entstehen kann. Wir wollen unsere Erfahrungen mit mySugr frei und offen weitergeben.“

TT: Wie beurteilt ihr das wachsende Ökosystem in Wien? Noch in diesem Jahr sperren mit weXelerate und Talent Garden zwei hochkarätige Hubs auf.  

Gerald Stangl: „Alles, was neue Infrastruktur schafft und die Wahrnehmung schärft, dass eine Unternehmensgründung eine spannende Lebenserfahrung ist und dass die Möglichkeit des Scheitern etwas völlig Normales ist, macht die Stadt attraktiver und die Leute mutiger. Jede Initiative ist zu begrüßen.“

TT: Es gibt Sorgen, dass durch die Verschmelzung zwischen Technologie und Medizinmarkt der Patient und seine Daten den Unternehmen ausgeliefert sein wird. Betrifft euch die Diskussion?

Gerald Stangl: „Uns geht es darum, welchen Wert wir für die Menschen stiften können. Und wenn Daten helfen, das Produkt zu verbessern, dann machen wir es. Wir müssen nur die größtmögliche Sorgfalt walten lassen, um diese Daten zu schützen. Alle komplexen Geschäftsmodelle, die rund um die Daten im Hintergrund ablaufen, empfinden wir als unehrlich und lehnen sie ab.“

Michael Forisch: „Der Nutzen für den Kunden muss im Vordergrund stehen. Wir werden die Daten nicht des Datensammelns Willen zusammentragen. Das wäre den Kunden auch nicht zu vermitteln. Hacks sind ein großes Risiko. Wir sind jetzt innerhalb der Radargrenze aufgetaucht und nicht mehr das kleine Startup aus Wien. Wir lassen uns auch regelmäßig von Hacker-Gruppen hacken, um auf alles vorbereitet zu sein. Aber es ist ein ständiges Wettrüsten.“

Fredrik Debong: „Wir bekommen kaum Anfragen zum Thema Datenschutz. Wir haben 70.000 Konversationen mit unseren Kunden gehabt. Rund 150 hatten Fragen über Privatsphäre und deren Schutz, und fast alle kamen aus Deutschland.  Die Welt muss noch lernen, dass Privatsphäre wichtig ist und die Deutschen haben das schon gelernt.“

TT: Wo liegt der Nutzen der Daten für Euch? 

Frank Westermann: „Wir gehen sehr offen mit den Usern um. Wir haben einmal einen prekären Fehler bei einer Berechnung gemacht und uns umgehend bei den Usern entschuldigt und erzählt, wie wir den Fehler beheben. Wenn ein User Vertrauen in ein Unternehmen hat, dann hilft er dem Unternehmen sehr viel weiter. In der Medizin hilft Datenerhebung nun einmal, um Fehler zu entdecken und Therapien zu optimieren. Aber da muss jeder entscheiden, wie er damit umgeht. Wer dem nicht zustimmt, schließt sich vom technischen Fortschritt aus. Das ist eine zutiefst persönliche Sache und das muss jeder für sich entscheiden. So funktioniert eben unsere Welt.“

Fredrik Debong: „Die Privatsphäre und die Automatisierung sind zwei Seiten von einer Münze. Und der Winkel soll individuell tariert werden können. Dort müssen wir als Gesellschaft hin.“

Michael Forisch: „Wir müssen mündig werden. Die Kunden sollen lernen, was mit ihren Daten geschieht und was es für sie bedeutet, wenn ein Service vordergründig umsonst ist. Aber den meisten ist das ziemlich egal.“

TT: Was könnte der Staat zum Thema Datenschutz beitragen?

Frank Westermann: „Es kommt stark darauf an, dass der Gesetzgeber ein Regelwerk entwirft, in dem klipp und klar steht, was mit Daten gemacht werden darf und was nicht und noch wichtiger ist, dass diese Gesetze auch wirklich exekutiert werden. Aktuell haben wir ganz viele Gesetze, aber niemand schaut darauf, ob sie wirklich befolgt werden. Wir wollten schon als kleines Unternehmen immer gesetzeskonform agieren, aber es ist ein Wettbewerbsnachteil, wenn man die Regelungen strikt einhält. Es sollte von Behörden nachverfolgt werden, wenn Unternehmen sich nicht daran halten. “

Michael Forisch: „Datenschutz war lange ein Papiertiger ohne Zähne. Mit den Änderungen, die der Gesetzgeber bis zum nächsten Jahr vorsieht, werden dann bei Verstößen keine kleinen Verwaltungsstrafen mehr fällig, sondern 20 Millionen Euro oder vier Prozent des Umsatzes. Dem Tiger wächst plötzlich ein Gebiss.“

Frank Westermann: „Es müssen Lösungen gefunden werden, auch bei Konzernen, die in anderen Ländern sitzen. Wer im europäischen Kontext aktiv werden will, muss sich auch an die Regeln halten.“

Welche Ziele verfolgt ihr bei der Weiterentwicklung der App?

Gerald Stangl: „Für uns ist die App nur der Türöffner. Wir sichern uns mit der App den Platz in der Hosentasche. Wir bieten aber ganzheitliches Diabetes-Management an. Den wirklichen Wert schaffen andere Dinge. Zum Beispiel ein echter, ausgebildeter Diabetes-Coach, der über die App Beratung gibt. Blutzuckermessstreifen, die automatisch nach Hause geliefert werden, ohne dass der Kunde zum Arzt oder zur Apotheke gehen muss. Die Insulinberechnung über die App. All das bekommt man kostenlos zugeschickt, wenn man sich bei einer Versicherung anmeldet, mit der wir kooperieren. Das ist unser Weg: Über die Box, die alles automatisiert zur Verfügung stellt und sich der Kunde um nichts mehr kümmern muss.“

Frank Westermann: „Wir haben aus dem Stück Software ein Unternehmen entwickelt, wo wirkliche Menschen dahinter sitzen, Fragen beantworten und die Daten managen. mySugr ist zu einem allumfassenden Service für Diabetiker geworden.“

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