Allergische Reaktionen

„Unverträglichkeiten nicht nachweisbar“: Schwere Zweifel an Bluttests von Kiweno – Start-up kontert

Das Testpackerl mit allen Ingredienzen. © kiweno
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Mit sieben Millionen Euro Werbebudget (brutto) sollen dieses Jahr die Selbsttests des österreichischen Start-ups Kiweno (TrendingTopics.at berichtete) im TV beworben werden. Sie versprechen dem Käufer, mit Hilfe eines Bluttests, der im Online-Shop um 100 Euro bestellt wird, Aufschluss über etwaige Lebensmittelunverträglichkeiten zu geben. Doch Experten erheben starke Zweifel daran, ob das dabei angewendete Testverfahren überhaupt solche Ergebnisse liefern kann. Kiweno bzw. das deutsche Partnerlabor Biovis messen in den Blutproben, die Nutzer einschicken, Antikörper des Typs IgG4, um Unverträglichkeiten auf bestimmte Eiweißbestandteile der Nahrung festzustellen.

„Diese Tests sind nicht geeignet zum Nachweis einer Nahrungsmittelallergie”, sagt Petra Ziegelmayer, Leiterin des Komitees für klinische Allergologie der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (ÖGAI). “Unabhängig davon, ob Sie spezifische IgG-Antikörper mit einem quantitativen oder semi- bzw. nichtquantitativen Verfahren messen lassen, gibt ein IgG-Nachweis nur eine Information über eine erfolgte Exposition und eine immunologische Auseinandersetzung Ihres Immunsystems mit dem wiederholt zugeführten Nahrungsmittel, erlaubt aber keinesfalls eine Aussage über eine Allergie oder Allergiebereitschaft.“

Die ÖGAI repräsentiert Wissenschafter und Ärzte, die an der Physiologie und Pathophysiologie des Immunsystems sowie an Klinik, Diagnostik und Therapie aller Krankheiten, die das Immunsystem betreffen, interessiert sind. Zu ihren unterstützenden Mitgliedern zählen Pharmafirmen wie Novartis.

„Unverträglichkeiten mit IgG-Test nicht nachweisbar“

Ziegelmayer führt weiter aus: “Allergien sind immunologisch determiniert und durch spezifische IgE-Antikörper nachweisbar. Es gibt verschiedene andere immunologische und nicht-immunologische Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die z.B. vorübergehend infektassoziiert oder enzymbasiert sein können. Keine dieser Unverträglichkeiten sind mit einem IgG-Test nachweisbar, ein sicherer Nachweis ist nur der klinische Kausalzusammenhang.”

In der Leitlinie der der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI) in Zusammenarbeit u.a. mit der ÖGAI aus dem Jahr 2015 heißt es:

„Bestimmungen von Immunglobulin G(IgG)- oder IgG4-Antikörpern bzw. Lymphozytentransformationstests mit Nahrungsmitteln erlauben keine Unterscheidung von Gesunden und Erkrankten, weder bei Nahrungsmittelallergie noch bei Nahrungsmittelunverträglichkeit. Die mangelnde diagnostische Spezifität bedingt viele positive Befunde bei Gesunden. Nahrungsmittelspezifisches IgG oder IgG4 zeigt lediglich, dass das Individuum wiederholt Kontakt mit dem entsprechenden Nahrungsmittel gehabt hat und stellt eine physiologische Reaktion des Immunsystems auf ein Fremdprotein dar. Die Proliferation von Lymphozyten nach Stimulation mit Nahrungsmitteln und das IgG bzw. IgG4 gegen Nahrungsmittel im Serum können bei Allergikern erhöht sein. Jedoch sind beide Tests wegen ihrer Streuung und der unzureichenden Spezifität nicht zur individuellen Diagnostik einer Überempfindlichkeit auf Nahrungsmittel geeignet.“ (Hervorhebung durch den Autor)

Die ÖGAI hat bereits 2009 eine Leitlinie veröffentlicht, in der IgG-Antikörpertests strikt abgelehnt werden. “Vorhandenes IgG4 sollte keineswegs als Auslöser für eine Überempfindlichkeit angesehen werden”, heißt es in dem Papier, und weiter: “Nahrungsmittelspezifisches IgG4 liefert keine Hinweise auf eine (drohende) Nahrungsmittelallergie oder -intoleranz, sondern stellt im Gegenteil eine natürliche Immunantwort nach Kontakt mit Nahrungsmittelbestandteilen dar. Die Bestimmung von IgG4-Antikörpern gegen Nahrungsmittel ist daher irrelevant für den laborgestützten Nachweis einer Nahrungsmittelallergie oder -intoleranz und sollte im Zusammenhang mit nahrungsmittelassoziierten Beschwerden nicht durchgeführt werden.”

Darüber hinaus, so das ÖGAI-Dokument, könnten die „irreführende Interpretation von Testergebnissen“ anschließend als Begründung für „ungerechtfertigte und häufig einschneidende Diäten“ verwendet werden, die wiederum „zu erhöhtem Leidensdruck, eingeschränkter Lebensqualität, zur Verunsicherung oder sogar Gefährdung der betroffenen Personen“ führen könnten.

Kiweno kontert: „Langjährige medizinische Praxis“

Laut Kiweno würde das angwendete Testverfahren „unter anderem bei HIV-Tests“ verwendet werden garantiere eine sehr genaue Auswertung. „Uns ist bewusst, dass der IgG/IgG4-basierte Nahrungsmittelunverträglichkeits-Test in Diskussion steht. Wir sind jedoch, basierend auf langjähriger medizinischer Praxis und vieler laufender positiver Rückmeldungen, davon überzeugt, dass die Berücksichtigung unserer Test-Ergebnisse einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben“, sagt Dr. Roland Fuschelberger, medizinischer Leiter von Kiweno. „Unser Angebot sehen wir als Erweiterung zur etablierten medizinischen Behandlung und nicht als Ersatz.“

Fuschelberger betont außerdem, dass Lebensmittelallergien nicht mit Lebensmittelunverträglichkeiten zu verwechseln seien. „Im medizinischen Sinne sind Unverträglichkeiten Typ-3-Allergien. Das bedeutet, es sind abgeschwächte, verzögerte Reaktionen auf diverse Nahrungsmittel“, so der Kiweno-Mediziner. „Im Volksmund wird als Allergie die klassische Typ 1 Allergie mit Sofort-Reaktion im Minutenbereich bezeichnet, die Symptome wie z.B. Schwellungen, Ausschläge oder Rötungen zur Folge haben kann. Im Gegenzug dazu äußern sich Beschwerden bei Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten meist 6 bis 48 (teilweise bis zu 72) Stunden nach dem Verzehr. Das macht eine Selbstdiagnose – d.h. ohne Test – sehr schwierig bis unmöglich, da die Reaktion nicht unmittelbar auf das verzehrte Lebensmittel zurückgeführt werden kann.“

Die Allergologen-Richtlinie, die die Kritiker gegen Kiweno ins Feld führen, ist laut Fuschelberger zudem unvollständig. „In der Richtlinie werden nicht alle zur Verfügung stehenden Daten berücksichtigt bzw. beachtenswerte aktuelle Studienergebnisse bleiben unerwähnt.“ Der Mediziner verweist auf eine Reihe von Studien aus den Jahren 2005 bis 2015 (z.B. Clarke, Hardman, Zar, Bernardi, Müller, Mitchell und Guo) die diese Art von Tests sehr wohl als geeignet für die Feststellung von Lebensmittelunverträglichkeiten sehen würden. Kiweno würde Testergebnisse zu Nahrungsmittelunverträglichkeiten nach der Klassifizierung von Forscher Robin Coombs anbieten. Auch interessant: Coombs` „Classification of allergic reactions responsible for clinical hypersensitivity and disease“ stammt aus dem Jahr 1975.

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