Der Erfolg von Pokémon Go: Unfertiges Game sollte „möglichst viele laue Sommerabende mitnehmen“
Mehr als 100 Millionen Downloads, geschätzte 160 Millionen US-Dollar Umsatz pro Tag und Spieler, die mit der App mehr Zeit verbringen als selbst mit der Facebook-App: Pokémon Go ist das Phänomen des Sommers und hat auch in Österreich für Massenansammlungen und skurrile Unfälle gesorgt. Mehr als 200.000 Downloads allein in Österreich hat es gegeben, schätzt der Wiener App-Analysedienst Applyzer.
Doch was macht die App so erfolgreich? Immerhin hat die App für viele Negativ-Meldungen gesorgt, sammelt wie berichtet eifrig Daten der Nutzer, kämpfte mit Serverproblemen, verärgerte Nutzer mit dem jüngsten Update und saugt den Akku von Smartphones in Rekordzeit leer. Österreichische Gaming-Experten haben für TrendingTopics.at analysiert, was das Spiel trotzdem so begehrt macht.
„Wenn man sich die Gesetzmäßigkeiten des Marktes für Mobile Games anschaut, muss man sich über den Erfolg von Pokemon Go durchaus wundern. Die App macht einen durchaus unfertigen Eindruck. Darauf, SpielerInnen auf motivierende Weise ins Spiel einzuführen, wurde weitgehend verzichtet“, sagt Johanna Schober, COO des österreichischen Videospielentwicklers Sproing (u.a. „Moorhuhn“, „Asterix & Friends“). „Wichtige Features sind äußerst fehlerbehaftet. Die USA als frühes Soft-Launch-Land auszuwählen, ist mehr als ungewöhnlich. Die technischen Probleme mit Serverüberlastung am Beginn hätten viele andere Spiele einfach gekillt.“
Bekannte Marke, simples Gameplay
Dass Pokémon Go im Vergleich zu seinem Vorgänger Ingress, das Niantic Labs vor einigen Jahren veröffentlichte und das sehr ähnlich funktioniert, die breite Masse erreicht, hat einen einfachen Grund. „Der Bekanntheitsgrad der Marke Pokémon ermöglichte ein rein virales Wachstum des Spiels. Viele Pokémon-Go-Spieler sind mit Pokémon groß geworden und darüber hinaus gibt es eine relativ große Pokémon-Fangemeinde unter Gamern“, sagt Helmut Hutterer, COO der Wiener Gaming-Firma Socialspiel (u.a. „Legacy Quest“).
Auch das Spiel selbst sei an die breite Masse gerichtet: „Die stark reduzierte und stilisierte Präsentation sowie relativ simples Gameplay sind perfekt, um viele unterschiedliche Spielertypen anzusprechen“, so Hutterer weiter. Und: „Die meisten Interaktionen im Spiel verlangen kaum volle Aufmerksamkeit, was das Spiel extrem alltagstauglich macht. Gemeinsam essen gehen, ein Gespräch führen und nebenbei ein paar Pokémons fangen, ist kein Problem.“
Für den langfristigen Erfolg könnten sich der „doch sehr simple Charakter und der doch eher überschaubare Feature- und Content-Umfang“ aber als problematisch erweisen, hier müsse Macher Niantic bald mit neuen Features nachlegen.
Unfertiges Game für laue Sommerabende
„Ich nehme an, dass Niantic auch deshalb ein unfertiges Produkt veröffentlicht hat, weil sie möglichst viele laue Sommerabende mitnehmen wollten“, sagt Johanna Schober von Sproing. Denn eigentlich würde man Spiele zuerst nicht am Riesenmarkt USA veröffentlichen, sondern erst in kleinen Märkten testen und dann international ausrollen. „Anders lässt es sich fast nicht erklären, zumal die Firma meines Wissens nach ausreichend finanziert und das Produkt selbst nicht besonders aufwendig ist.“
Für viele neu ist jedenfalls die Augmented-Reality-Funktion, mit der die virtuelle Pokémon-Welt am Smartphone-Display in die echte Welt eingeblendet wird. „Pokémon Go ist für die meisten Menschen die erste Spielerfahrung, bei der die Grenzen zwischen virtueller und realer Welt verschwinden“, sagt Hutterer von Socialspiel. „Die bekannte Umgebung kann auf neue Art erlebt werden und das Augmented-Reality-Feature ist ebenso für viele ein neues Gimmick.“
Die soziale Komponente
Besonders wichtig bei dem Location-Game dürfte aber die soziale Komponente sein – gleichgesinnte Spieler treffen sich oft zu Dutzenden, manchmal sogar zu tausenden am selben Ort und machen die Pokémon-Jagd zum gemeinsamen Erlebnis. „Was Pokémon Go so stark macht, ist das soziale Erleben in der echten Welt in Kombination mit der starken Brand“, sagt Schober von Sproing. „Durch das Ignorieren vieler Best Practices und dem völligem Vertrauen in die Kraft der sozialen Bindungen und dem Sammeltrieb des Menschen ist ihnen ein einzigartiger Coup gelungen.“
„Die gemeinsame Pokémon-Jagd erzeugt ein reines Wir-Gefühl, ohne einander als Konkurrenz zu betrachten, und selbst Spieler mit einem stark unterschiedlichen Spielfortschritt können gemeinsam Spaß haben“, sagt Hutterer von Socialspiel. Spannend dabei sei, dass das Spiel den Nutzern vieles nicht erkläre, was wiederum den direkten Austausch zwischen Spielern und somit das Spieler-Engagement fördere.
Der Konkurrenz ausgewichen
Dass es Pokémon Go in den App Charts ganz nach oben geschafft hat und nicht nur WhatsApp oder Facebook von den Top-Positionen verdrängt hat, sondern auch große Free-to-Play-Games, hat viele überrascht. Gelungen sei, dass, weil es anders als viele andere Spiele funktioniere, so Hutterer: „Es gibt es kaum Spiele, die sich dazu eignen, während dem Gehen gespielt zu werden. Eben genau das ist ein riesiger Vorteil von Pokémon Go. Es versucht erst gar nicht, in Konkurrenz zu anderen mobiler Spiele-Hits zu treten.“
Diese Taktik drückt sich auch am Markt aus. „Bemerkenswert ist, dass das Spiel anscheinend riesige Umsätze macht ohne bestehende Umsätze im mobilen Games-Markt zu kannibalisieren“, analysiert Schober von Sproing. Das ist für sie auch die wichtigste Lehre der Geschichte: „Es zeigt, welch überraschendes Potential im mobilen Markt, dessen Marktführer seit Jahren die gleiche Handvoll Firmen ist, immer noch steckt. Neue Arten, mobile Games zu nutzen und mit der echten Welt zu verknüpfen, sind offenbar immer noch in der Lage, den Markt signifikant zu beleben, obwohl wir uns alle schon in einer Sättigungsphase gewähnt haben.“