Gastbeitrag

Wien Energie: Was war da eigentlich los?

Wien Energie in Spittelau. © Trending Topics
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Helmut Spindler ist CEO von PowerBot, das sich auf die Automatisierung des Stromhandels im Intradaymarkt spezialisiert hat und dabei hilft, Erneuerbare Energien in den Markt zu integrieren und das Potential von flexiblen Anlagen, wie etwa Batteriespeicher, zu heben.  In diesem Gastbeitrag beschäftigt er sich mit den Spekulationsvorwürfen gegen die Wien Energie, welche die Terminmarktgeschäfte betreffen. Zur Klarstellung: PowerBot unterstützt Unternehmen beim physischen Ausgleich von Erzeugungsschwankungen im Kurzfristmarkt, was für die Energiewende erforderlich ist. Die Dienstleistungen von PowerBot haben keinen Bezug zu Terminmarktgeschäften und es besteht auch keine Geschäftsbeziehung zu Wien Energie.

Als Energiemarktexperte wurde ich in den letzten Tagen klarerweise immer wieder zur Causa Wien Energie gefragt. Grundsätzlich ist es natürlich so, dass nur die Wien Energie (WE) weiß, was da genau passiert ist und als Öffentlichkeit kennen wir keine Details. Ich kann jedoch sagen, dass die Geschichte, die diese in den letzten Tagen medial erzählt hat, energiewirtschaftlich schlüssig ist und ich dazu neige, deren Aussagen („es gibt keine spekulativen Positionen und auch keine Verluste, nur temporären Kapitalbedarf für Sicherheiten“) zu glauben. Ich erläutere meine Sicht hier nun doch, weil es einfach so viel öffentliches Interesse an diesem Thema gibt. Vorab möchte ich aber noch erwähnen, dass dies meine reine Privatmeinung ist und ich keine Geschäftsbeziehungen zur Wien Energie habe. Es ist einfach ein Expertenblick auf das, was ich den letzten Tagen den Medien entnommen habe, nicht mehr und nicht weniger.

Zocken in hohem Ausmaß unplausibel

Was mich an der Spekulations-Storyline von Anfang an stark verwundert hat, ist folgendes: Die Wien Energie ist aus Energiehandelssicht kein besonders großer Player. Dass ein „Stadtwerk“ spekulativ mehrere Terrawattstunden (TWh) Strom short ist – oder gar 16 TWh wie behauptet (der Stromverbrauch Österreichs liegt übrigens bei 70 TWh pro Jahr) – erscheint sehr unplausibel. Das wäre in etwa so, als würde eine beamtete Person eine Milliarde Euro Staatsgeld im Casino auf Rot setzen. Theoretisch denkbar, aber unplausibel. So eine Wette wäre einfach eine Nummer zu groß für die Wien Energie. Und wenn das so wäre, hätte man auch keine Finanzierung mehr gegeben.

Wenn Unternehmen im Energiemarkt spekulativen Handel (Prop-Trading) betreiben, ist es außerdem in der Regel so, dass es eigene Bücher und Händler dafür gibt, deren Position klar limitiert ist – und das Risikomanagement überwacht das sehr strikt. Unternehmen wie die Wien Energie, klassische und sehr konservative Versorger, haben aber gerade im Portfoliomanagement in der Regel sehr strikte Vorgaben. Es erscheint mir daher mal aufgrund meiner Erfahrung in der Branche sehr unplausibel, dass die Wien Energie in solchem Ausmaß zockt.

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Handel an Strombörsen ist Best Practice

Ich glaube eher (und das sagt auch die Wien Energie), dass sie die Produktion aus ihren Kraftwerken an der Börse verkauft hat und hierfür Sicherheiten liefern muss, für den Fall, dass sie den Strom nicht produziert. Das hat große Fragezeichen in der Öffentlichkeit verursacht: Warum verkauft die Wien Energie denn Strom an der Börse, wenn sie damit Kund:innen beliefern könnte. Das wirkt sehr eigenartig, ist aber Best Practice. Das liegt darin begründet, dass der schwankende Deckungsbeitrag eines Gaskraftwerks, der sogenannte Spark Sprad, fixiert werden soll.

Dabei werden zu einem guten Zeitpunkt Erdgas und CO2-Zertifikate eingekauft und Strom verkauft, wenn der Deckungsbeitrag/Differenzbetrag hoch ist. Man will damit sicherstellen, dass das Kraftwerk keine Verluste macht. Man will ja nicht ein Kraftwerk betreiben, deren Erzeugungskosten am Schluss über dem Marktpreis für Strom liegen (man könnte sonst ja auch einfach Strom am Markt zukaufen), sondern das Kraftwerk muss einen Deckungsbeitrag liefern. Eine Kraftwerkssparte darf keinen Verlust machen, und das stellt man genau auf diese Art und Weise sicher.

Portfoliostrategie von Wien Energie „gutes Zeichen“

Anstatt den Strom an der Börse zu verkaufen, könnte man diesen natürlich stattdessen ans das Vertriebsportfolio verkaufen, oder? Aber die für das Vertriebsportfolio verantwortlichen Personen würden damit wenig Freude haben, denn diese müssen streng festgelegte Tarifstrategien verfolgen. Manche Kund:innen wollen Fixpreisverträge, andere variable Verträge, andere Tarife mit Caps, andere mehrjährige Fixpreise usw. Wenn die Kraftwerke nun sagen würden: „Heute ist der Spark Spread gut, heute verkaufe ich euch, lieber Vertrieb, einen Teil meiner Stromproduktion“, hätten die ebenfalls wenig Freude. Das würde nämlich die Tarifstrategie zerstören und zu Zufallsstrategien im Vertriebsportfolio führen, die vom Spark Spread gesteuert sind.

Das würde wiederum nicht mit den Energieverkäufen an Endkund:innen zusammenpassen und dadurch würde Risiko überhaupt erst entstehen. Außerdem hat der Vertrieb viele back-to-back-Kund:innen im Gewerbebereich, also Kund:innen, die nur minimale Aufschläge auf den tagesaktuellen Marktpreis zahlen. Dieses Risiko muss sofort verlagert werden (Verkauf von Strom an Kund:innen, Rückkauf an der Börse), damit der Vertrieb den Deckungsbeitrag gesichert hat. All diese Aspekte sind wichtig, um das Risiko im Energiehandel jederzeit unter Kontrolle zu haben. Es wäre eher ein Skandal, wenn solche Prozesse nicht da wären. Also eigentlich ein gutes Zeichen, dass Wien Energie das im Portfoliomanagement so macht, auch wenn sich das komisch anhört.

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Profile von Absicherungen sind unterschiedlich

Ein weiterer Grund für die getrennten Käufe und Verkäufe von Strom liegt darin, dass die Profile der Verbraucher:innen nicht mit jenen der Produktion zusammenpassen. Der Vertrieb braucht Strom das ganze Jahr, die Kraftwerke sind wegen der Fernwärme stark winterlastig. Wir haben also eine Saisonalität. Vor allem aber benötigen Haushalte und Gewerbe ein dem Portfolio entsprechendes Verhältnis von Bandstrom und Spitzenstrom (Baseload und Peakload). Die Hedges für den Vertrieb müssen wert-äquivalent (dafür gibt es HPFC-Modelle) den stündlichen Verbrauch repräsentieren, das ist ein anderes Profil als die Produktion der Kraftwerke. Das passt alles einfach schlecht zusammen, daher machen Produktion und Vertrieb ihr eigenes Risikomanagement.

Die Spark-Spread Bewirtschaftung hat üblicherweise eine Laufzeit von 1-2 Jahren in die Zukunft. Laut Wien Energie gibt es Verkäufe für Strom in Höhe von 4,5 TWh, das ist weniger als die Jahresproduktion. In den Medien sind 16 TWh an Verkäufen genannt worden, die aber nur aus einem Jahresbericht gelesen wurden. Laut Wien Energie handelt es sich bei der Differenz um interne Geschäfte zwischen den Unternehmensteilen. Die Frage von Personen aus der Finanzbrache war, warum diese Geschäfte nicht in der Bilanz konsolidiert sind. Bilanzierung ist nicht mein Thema, aber die Konsolidierung solcher physischen Absicherung ist schwierig.

Preisverdopplung großes Pech für Energiefirmen

Die Wirkung von Terminmarktgeschäften im Strom muss auf Stundenbasis bestimmt werden, man kann nicht einfach Base- und Peak-Hedges mischen oder Monats- und Quartalsprodukte. Aufgrund der kleinen österreichischen Preiszone wird außerdem vorwiegend in Deutschland abgesichert, der Spread DE-AT wird getrennt bewirtschaftet. Absicherungen für physische Produkte sind hier nicht mit Produkten aus der Finanzwelt zu vergleichen. Es erscheint mir schlüssig, dass die Position aus der Bilanz nicht die finanziell offene Position ist. Übrigens: Absicherungen am Strommarkt sind oft mehrjährig, der Vergleich der 16 GWh mit der Produktion eines Jahres ist allein schon deswegen auch falsch. Aber die 4,5 TWh erscheinen aufgrund des Spark Spread Hedging plausibel.

Was ist nun konkret passiert, was zu diesem irrsinnigen Kapitalbedarf geführt hat? Die 4,5 TWh müssen besichert werden. Denn der Käufer dieser Menge bzw. die Börse brauchen Sicherheiten, dass der Strom von Dritten gekauft wird, falls die Wien Energie diesen nicht produziert. Je teurer der Marktpreis für Strom wird, umso höher diese Sicherheit. Dass sich der Preis innerhalb von zwei Wochen verdoppelt, war großes Pech für die Wien Energie und alle Handelsunternehmen (mittlerweile hat es europaweit übrigens auch andere, zum Teil sehr große Player am Enerigemarkt mit Liquiditätsengpässen erwischt). Wir hatten ganz kurz einen Preis von über 1.000 EUR/MWh für die Lieferung im Jahr 2023, der langjährige Preis liegt eher bei 50 EUR/MWh.

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Fokus auf Fernwärme großer Nachteil

Den Banken ist das ganze vermutlich zu heiß geworden, sie sind im Energiehandel auch meist nicht bis ins letzte Detail informiert und haben vermutlich auch so schnell keine Milliarden zur Verfügung. Also der Ruf nach der öffentlichen Hand. Die Spark Spread Absicherungen der Wien Energie sind übrigens vermutlich sehr profitabel, man deckt hier also ein gutes Geschäft. Auflösen kann die Wien Energie diese Hedges jedoch nicht – man müsste dann sofort Cash für den gestiegenen Strompreis hinlegen und hätte zudem Verlustrisiko. Warten und produzieren bringt ihr aber den Deckungsbeitrag aus dem Spark Spread.

Die Wien Energie braucht daher wohl einfach die entsprechende Liquidität, bis sie den Strom produziert und ihren Gewinn einfährt. Es ist die richtige Entscheidung, dass wir als Steuerzahler ihr hierfür Geld leihen (wenn das alles so stimmt, wie behauptet wird!). Ähnliche Probleme im Spark Spread Hedging wird auch der Verbund haben, aber deren Erlössituation ist wegen ihrer Wasserkraftwerke (diese sind aufgrund von Grenzkosten von nahezu null gerade extrem profitabel) derzeit unglaublich gut und hat daher mit den Sicherheiten wohl weniger ein Problem. Die Wien Energie hat hier wegen ihrem Fokus auf die Fernwärme (mehr fossile Kraftwerke) hingegen einen Nachteil.

Wien Energie braucht bis zu 2 Mrd. Euro täglich für Stromhandel

Fazit

Würde die Wien Energie das wieder so machen und Stromproduktion am Markt verkaufen und im Vertrieb rückkaufen? Vermutlich nicht, denn der vom Krieg gestörte Markt ist gerade „kaputt“, der Terminmarkt hat kaum Liquidität. Aber das, was sie gemacht hat, ist in normalen Zeiten Standard und entspricht üblichen Risikovorgaben. Dass die Wien Energie mehr an der Börse gehandelt hat als bilateral, ist auch nicht als negativ zu bewerten. Dadurch ist sie vor einem Dominoeffekt in der Energiebranche geschützt, falls es zu Insolvenzen kommen sollte. Was der Wien Energie passiert ist, war eigentlich ein großer Kommunikationsfehler, man hätte früher und besser kommunizieren sollen. Aber auch im Risikomanagement gibt es vermutlich Verbesserungspotenzial. Der Treppenwitz an der Geschichte ist aber, dass das Cash-Flow-Problem der Wien Energie vermutlich durch den Sicherheitenbedarf ihres Risikomanagements verursacht wurde.

Meine Meinung daher: Wenn das alles so stimmt, wie von der Wien Energie behauptet, gibt’s hier keinen Skandal, nur einen temporären Kapitalbedarf. Aber Achtung: Die richtig großen Probleme im Energiemarkt kommen erst noch. Leisten Sie Ihren Beitrag zum Energiesparen, der Winter wird leider sehr hart werden.

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